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Über den Roman

(Ein Essay von Bodo Gaßmann: Versuch einer Apologie des Romans
am Beispiel von Arno Kaisers „Fieber“ und anderer Romane)

Eine Anmerkung zum Verhältnis von Autor und Erzähler

Der Erzähler (das erzählende Ich) ist eine fiktive Person, während der Autor eine reale ist. Das sieht man schon daran, dass der Lebensweg Karl Heinz Benders anders verläuft als der des Autors, wie dieser mir versichert hat. Wenn jedoch der Erzähler im Roman darüber reflektiert, ob eine Autobiografie besser oder schlechter ist als eine fiktive Darstellung und wenn der Roman den Untertitel „Nach autobiografischen Motiven“ trägt, dann wird diese eindeutige Differenz durchbrochen. Wie die dokumentarischen Teile, die sich offenbar auf den Autor beziehen, die Immanenz der Fiktion aufbrechen, so die Koinzidenz von Erzähler und Autor an einigen Stellen, etwa auch bei der Anmerkung, die Schläge bei der Kripo in Nordhausen seien dokumentarisch zu betrachten. Man vergleiche nur die Dramaturgie Brechts, der einen Schauspieler aus seiner Rolle heraustreten lässt, indem sich dieser direkt dem Publikum zuwendet, dieses anspricht und die Rolle, die er eben noch gespielt hat, kommentiert. Die Funktion dieses Changieren zwischen fiktivem Erzähler und realem Autor hat die gleiche Funktion, wie die dokumentarischen Passagen im Roman. Wer wollte ein literarisches Gesetz aufstellen, zwischen Erzähler und Autor müsse immer klar unterschieden werden? Ein solches könnte nur gelten für hermetische Kunstwerke mit strenger literarischer Autonomie, nicht jedoch für ein offenes Werk mit dokumentarischen Momenten.

Ein weiterer Unterschied zu den oben besprochenen Kriegsromanen ergibt sich beim Vergleich der Zeitstrukturen. Die Kriegsromane sind chronologisch strukturiert. Das ergibt sich aus dem Geschehen und den Lernprozessen, welche die Protagonisten durchleben oder die sie wie bei Jünger nur rudimentär haben. Der Roman „Fieber“ will nicht nur Geschehnisse und Handlungen darstellen, sondern diese zu Erfahrungen erweitern. Dazu bietet sich eine mehr assoziative Schreibweise an, die Handlungen nicht chronologisch ordnet, sondern nach Relevanz für die Aussageabsicht. Diese ist um die Entwicklung des erlebenden Ichs und den Aufsatz, den es schreiben soll, gruppiert. Episoden werden zu Argumenten für seine Entscheidung. Damit diese assoziative Kombination der Geschehnisse nicht chaotisch wirkt, greift der Autor auf einen literarischen Trick zurück, der schon in Homers „Ilias“ zu finden ist. Die zehn Tage in der Krankenstation werden zum Rahmen für die Anordnung der Episoden eingesetzt. Dadurch wird nicht nur die Handlung ständig unterbrochen und ein Verfremdungseffekt erzeugt, sondern auch die Einheit des Romans trotz der Zeitsprünge hergestellt. Dieser Rahmen gibt der geistigen Entwicklung des Protagonisten mehr Klarheit und hat ein eigenes Gewicht, zugleich schaffen die Diskussionen unter den Häftlingen in dieser Krankenstation eine Verbindung der individuellen Schicksale mit dem Allgemeinen der DDR-Wirklichkeit.
Die subjektive Perspektive ist für Adorno heute nicht mehr angebracht, weil sie nicht mehr ans Allgemeine der Gesellschaft heranreicht. Ich habe gezeigt, wie Kaiser diese Schwierigkeit umgeht. Auch das Dokumentarische wird von Adorno abgelehnt, da es die Autonomie des Kunstwerkes zerstört. Auf diese Einwände ist nun einzugehen.


Adornos radikale Kritik am Roman und ihre Widerlegung

Den schärfsten Angriff auf den Roman als Roman hat in unserer Epoche Adorno vorgetragen: „es läßt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans Erzählung verlangt“ (Standort, S. 61). Die „verwaltete Welt“ sei von „Standardisierung und Immergleichheit“ geprägt, die verhindert, „etwas Besonderes zu sagen“ (S. 63). In Bezug auf den „Subjektivismus“ des Erzählers (S. 61), seine Unterstellung, „als wäre der Weltlauf wesentlich noch einer der Individuation, als reichte das Individuum mit seinen Regungen und Gefühlen ans Verhängnis noch heran, als vermöchte unmittelbar das Innere des Einzelnen noch etwas“ (S. 63), ist der Erzähler solcher Erfahrung nicht mehr mächtig.
„Wer heute noch, wie Stifter etwa, ins Gegenständliche sich versenkte und Wirkung zöge aus der Fülle und Plastik des demütig hingenommenen Angeschauten, wäre gezwungen zum Gestus kunstgewerblicher Imitation. Er machte der Lüge sich schuldig, der Welt mit einer Liebe sich zu überlassen, die voraussetzt, daß die Welt sinnvoll ist, und endete beim unerträglichen Kitsch vom Schlage der Heimatkunst.“ (S. 61 f.)
Letztlich verbiete die „Krisis der literarischen Gegenständlichkeit“, diese im Roman darzustellen. Die „universale Entfremdung und Selbstentfremdung“ verhindere das künstlerische Erzählen, dass diesen Anspruch erfülle. In diesem Zusammenhang wiederholt Adorno das hegelsche Argument, dass die „Wissenschaft“ die Faktizität und ihr Wesen „beschlagnahmt“ hat, und verschärft es noch, wenn er sagt, der Roman dagegen, wenn er seinem Anspruch auf Realismus folge, könne nur den „Schleier des Wesens“ reproduzieren.
Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der, indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft.“ (S. 64) Nur in der „ästhetischen Transzendenz reflektiert sich die Entzauberung der Welt“ (S. 65).
Der Fehler Adornos liegt schon in der Logik seiner Wesensbestimmung. Wie das Wesen erscheinen muss, so werden die Erscheinungen durch das Wesen bestimmt. Das Wesen ist das Gesetz der Erscheinungen. Die Erscheinungen  sind allerdings nicht ein Nichts, nicht bloßer Schein, wie Hegel unterstellt. Das Wesen ist nicht „die Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück“ (Hegel, zitiert nach Gaßmann: Grundlagen, S. 378 f.), sondern die daseienden Dinge haben gegenüber  dem Wesen eine gewisse Selbstständigkeit. Dies ist der Grund, warum die Entfremdung in der Gesellschaft nicht total sein kann, wie Adorno suggeriert.
Adorno wusste selbst von seiner ontologischen Auffassung her, das begriffliche Denken kann niemals die Totalität des Seienden erfassen, es bleibt immer ein Rest, ein Nichtidentisches, mit der Folge, dass wir nie von einer hermetisch geschlossenen Wirklichkeit der „verwalteten Welt“ ausgehen dürfen. Diese aber wird zumindest implizit von Adorno unterstellt. Er geht richtig davon aus, dass das Kapital als verselbstständigter Produktions- und Verwertungsprozess die Erscheinungen der Gesellschaft bestimmt.
„Das Kapital bezieht sich auf sich, indem es sich auf das bezieht, was für es völlig unwesentlich ist, den Schein, d. i. für das Kapital die Reproduktion der Arbeitenden. Das Kapital ist gleichgültig gegenüber seinen natürlichen Bedingungen, weil es die Produktion um seiner selbst willen betreibt. Die Tauschrelation setzt sich als Negation, d. h. als Bewegung von Nichts zu Nichts. Das Kapital produziert Tauschwert, um daraus Profit zu erlangen, der wieder zur Produktion von Tauschwerten reinvestiert wird. Wie die Arbeitskraft als Ware sind auch die produzierten Waren nur nichtige Durchgangsstationen der Verwertung des Werts. Das aber entspricht dem hegelschen Wesensbegriff. Alle Bestimmungen bis in die Subjekte hinein sind von der Produktion der Produktivität gesetzt. Alles soll sich ausweisen, dass es für anderes ist. Doch der restlose Übergang vom Dasein der Arbeitenden zum Wesen, die Anwendung der Arbeitskraft, ist idealistisch: Die Ware Arbeitskraft ist an existierende Menschen gebunden, die auch andere Bestimmungen haben, die nicht funktional für das Kapital sind, ihr organischer Körper, ihre Gefühle, Wünsche und Hoffnungen, ihr freier Wille und ihr mögliches Selbstbewusstsein gehen nicht in ihrer Funktion als Arbeitskraft auf. Auch die Materialität der Waren, die aus der Natur gewonnen wurden, geht nicht in ihrer Funktion als Verkörperung des Tauschwertes auf.“ (Gaßmann: Grundlagen, S. 379)
Diese Kritik der idealistischen Verhältnisbestimmung von Wesen und Erscheinung und damit am Kapitalverhältnis und seinen materialen Bedingungen missachtet Adorno, wenn er schreibt: „je dichter und lückenloser die Oberfläche des gesellschaftlichen Lebensprozesses sich fügt, um so hermetischer diese als Schleier das Wesen verhüllt“ (Adorno: Standort, S. 64), oder wenn er die Menschen und ihre Beziehungen mit „universale Entfremdung und Selbstentfremdung“ charakterisiert.
Gegen Adorno kann man deshalb anführen, er geht von einer hermetisch in sich geschlossenen eindimensionalen Welt aus. Die Menschen werden aber nicht nur, wie die Keile des Hephästos den Prometheus, an den Felsen des Kapitals geschmiedet (Marx: Kapital I, S. 675), sondern die Widersprüche des Bestehenden  erzeugen auch Empörung bei den Unterdrückten (Kapital I, S. 790 f.). Adorno bleibt bei der abstrakten Negation der kapitalistischen Verhältnisse stehen, kommt aber nicht zur bestimmten Negation dieser. Doch nur in der bestimmten Negation kann das Bewusstsein zu sich selbst kommen und die Bedingungen seiner Befreiung erkennen. Adorno dagegen bleibt in seiner radikalen Negativität unaufgeklärt über sich selbst (Brüggemann: Literarische Technik, S. 264). Indem Adorno den Charakter der Gesellschaft für totalitär und eindimensional erklärt, kann für ihn die Kunst (und speziell der Roman) diesen Charakter „bloß reproduzierend hinnehmen“ (Brüggemann, S. 263)
„Adornos Objektivismus, dem zufolge die Verdinglichung absolut und Veränderung unmöglich geworden ist, läßt einer anderen oder entgegengesetzten Erfahrung keinen Raum mehr und denunziert sie a priori als falsches Bewußtsein.“ (Brüggemann, S. 265)
Wenn der Protagonist im Roman „Fieber“, durch den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten geschockt, sich entschließt, Flugblätter gegen diese Invasion zu schreiben und zu verteilen, dann wäre das für Adorno lediglich eine hilflose Geste. Und fürwahr, 30 Flugblätter sind kein wirkungsvoller Protest. Die Stasi weiß aber besser als Adorno, dass sie als Teil der verwalteten Welt des Ostblocks bereits auf so kleinen Protest mit aller Gewalt des Staates reagieren muss. Denn hier hat sich einer oder haben sich einige gelöst aus der Lähmung der Verhältnisse; aus einem können viele werden, aus dreißig Zetteln können 30 000 Flugblätter werden, aus einer Schreibmaschine mit Durchschlägen ein ganzer Untergrundverlag. Der Sturz der Tyrannis der SED 1989 hat dies gezeigt. Dagegen ist der Pessimismus und Defätismus Adornos, auch wenn er sich oft bestätigt, die intellektuelle Abwürgung von Initiativen und selbst Teil der verfestigten Verhältnisse, die nur gedanklich, wenn auch kontemplativ kritisch, verdoppelt werden.
Auch da, wo man der Analyse von Adorno zustimmen kann, ist es dennoch unangebracht, daraus eine Anweisung für die literarische Produktion zu machen. Das wäre ein Rückfall in die Poetik des 18. Jahrhunderts, die sich bereits Goethe und Schiller, ihrem Vorbild Shakespeare folgend, nicht mehr gefallen ließen. Wird die Entfremdung und Selbstentfremdung auf die Spitze getrieben wie im Gefängnis und bei der Zwangsarbeit in den Arbeitslagern der DDR, dann kann sie umschlagen in Rebellion und Widerstand – das wusste auch Adorno. Und wer sagt denn, dass der Roman auf einen durchgängigen Realismus eingeschworen ist? In dem Roman „Fieber“ werden die Albträume des Protagonisten wiedergegeben, die auch ein Licht auf die Verhältnisse werfen. Die sexuellen Fantasien offenbaren die Deformation der Gefühlswelt des erlebenden Ichs. Das Spiel des kommentierenden Erzählers mit der Deutung seiner Erlebnisse als junger Mann gehören ebenfalls zur „ästhetischen Transzendenz“. Ebenso die Reflexionen des Romans im Roman. Gerade das erzählende Ich taucht jede Episode des Romans in die Negativität der gesellschaftlichen Verhältnisse ein. Da ist kein Sinn, keine Liebe zum Bestehenden, kein „Kitsch vom Schlage der Heimatkunst“. Selbst da, wo der Erzähler von der „Leichtigkeit des Seins“ spricht, bleibt die intellektuelle Distanz, sie zeigt sich z. B. in der Reflexion, selbst mit den Freunden über bestimmte Themen nicht sprechen zu können. Und die Übersiedlung in die Freiheit des Westens ist gebrochen durch die Willkür und den Zufall, der das Individuum als Spielball größerer Mächte erkennbar macht.

Gerade in den Zwischenwelten der herrschaftlich verfassten Verhältnisse in Ost und West hat der Roman noch eine Chance, „etwas Besonderes zu sagen“, ohne durchgängig auf den Realismus verzichten zu müssen. Solche Zwischenwelten sind im Roman „Fieber“ das Arbeitslager in Rackwitz, dort speziell die Krankenstation, die paradox gerade in der Muße der Krankheit Gelegenheit zur Reflexion erlaubt. Weitere Zwischenwelten sind der Aufenthalt an der Grenze im Böhmerwald, die monatelange U-Haft und damit die Möglichkeit dort, in Ruhe Weltliteratur zu lesen, und nicht zuletzt der Abschiebeknast in Karl-Marx-Stadt mit der Fahrt in den Westen.

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Das Gegenkonzept: Die fundierung des Roman auf Politik (7)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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